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Historikerkolleg

Vergangenheitsbewältigung und kollektive Erinnerung in Japan und Deutschland seit 1945“ – ein Deutsch-Japanisches Historikerkolleg

Was sind die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen in Deutschland und Japan nach 1945 eine Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit  stattfand und wie beeinflussten sie die spezifischen Themen und Kontroversen um diese Vergangenheit? Welche Bedeutung hatten politische Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft und die Kriegsopfer für den unterschiedlichen Verlauf der Thematisierung von Vergangenheit in beiden Ländern?
Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Zweiten Deutsch-Japanischen Historikerkollegs, das vom 17.8. bis 22.8.2005 an der University of Tokyo zum Thema „Vergangenheitsbewältigung und kollektive Erinnerung in Japan und Deutschland seit 1945“ stattfand. Die Veranstaltung knüpfte inhaltlich und organisatorisch an das Deutsch-Japanische Historikerkolleg „Vergangenheitsbewältigung und kollektive Identität nach 1945“ an, das im November 2003 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt worden war. Mit Unterstützung des Kultusministeriums Sachsen-Anhalt, der Japanese Society for the Promotion of Sciences, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sowie der University of Tokyo (DESK) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg richtete in diesem Jahr das Zentrum für Deutschland- und Europastudien der University of Tokyo (DESK) unter Leitung von Prof. Dr. Yuji Ishida das Kolleg aus. Neben Graduierten der Universität Tokyo nahmen wiederum unter Leitung der Historiker Prof. Dr. Michael Müller und Prof. Dr. Manfred Hettling sowie der Japanologen Prof. Dr. Gesine Foljanty-Jost und Tino Schölz deutsche Studenten der Geschichte und Japanologie der Universität Halle-Wittenberg an dem Kolleg teil. Ziel war es, durch  interdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit sich dem Thema der Erinnerungspolitik mit multiperspektivischen Frage- und Sichtweisen zu nähern. Dabei ging es, wie Foljanty-Jost zu Beginn des Kollegs feststellte, ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungen an Japan aufgrund unvollkommener Vergangenheitsbearbeitung. Vielmehr sollte im Laufe des Kollegs durch einführende Vorträge von Dozenten, studentische Referate und gemeinsame Arbeitsgruppen nach den Bestimmungsfaktoren gesucht werden, die in beiden Ländern in der Nachkriegszeit zu teilweise sehr unterschiedlichen Formen der Erinnerung geführt haben. Das Thema wurde in fünf thematischen Blöcken vergleichend bearbeitet. In einem ersten Themenblock referierten Manfred Hettling und Tino Schölz zum Thema „Distanzierung und Bewahrung als Grundmuster der deutschen und japanischen Erinnerungspolitik“ sowie Judith Rothe über christliches und moralisches Schuldverständnis. Es folgten unter dem Titel „Reparation und Entschädigung nach 1945“ insgesamt fünf Referate von Yoshizumi Masuda, Stefan Säbel, Eva Burzynski, Yuko Kawaguchi und Tetsuro Wakimizu, die dem Umgang mit „eigenen“ und „fremden“ Opfern in beiden Gesellschaften sowie der Differenzierung zwischen individuellen und kollektiven Entschädigungen gewidmet waren. Auf besonderes Interesse stieß der Bericht von Rechtsanwalt Masahiko Yamada, der als Mitglied einer Gruppe von Anwälten die Interessen von chinesischen Zwangsarbeitern gegenüber dem japanischen Staat vertritt und über die Prozessführung berichtete. Themenblock drei beleuchtete Orte und Rituale der öffentlichen Erinnerung. Kimonori Sato, Florian Kemmelmeyer und Denis Gänkler referierten in diesem Zusammenhang über die öffentliche Diskussion um das Holocaust Denkmal in Berlin, das geplante Zentrum gegen die Vertreibung sowie den Yasukuni-Schrein in Tokyo. Akteurskonstellationen als Erklärung für unterschiedliche Formen der Erinnerungsarbeit analysierten Michael Müller und Gesine Foljanty-Jost in ihrem Vortrag über gesellschaftliche Akteure der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan innerhalb des vierten Themenblock. Den Abschluss bildeten drei Vorträge zu Geschichtsbewusstsein und Schulbuchgesprächen, die von Michael Müller, Krzysztof Ruchniewicz und Yoshifumi Tawara gehalten wurden.


Folgende vorläufige Ergebnisse lassen sich festhalten:
Die Zeit des Nationalsozialismus bzw. des japanisch-chinesischen und pazifischen Krieges in Japan sind beide zentrale Bezugsereignisse bei der Herausbildung der politischen Systeme der Nachkriegszeit gewesen. Während aber in der Bundesrepublik die normative und personelle Distanzierung vom Nationalsozialismus konstituierend war, vollzog sich der Übergang zur demokratischen Ordnung der Nachkriegszeit in Japan gerade unter der Prämisse der Bewahrung der alten staatlichen Ordnung und vor allem auch der kaiserlichen Herrschaft.
Beide Gesellschaften mussten nach 1945 Wege finden, die Folgen des Krieges und der Gewaltherrschaft sowohl in Bezug auf die eigene Gesellschaft, als auch auf die jeweiligen Nachbarländer, die Opfer militärischer Aggression geworden waren, finanziell und juristisch zu regeln. Im Hinblick auf diese beiden Dimensionen der Aufarbeitung von Vergangenheit ergeben sich in beiden Ländern signifikant unterschiedliche Befunde. Während im Falle der Bundesrepublik finanzielle Entschädigung innergesellschaftlicher und ausländischer Opfergruppen Hand in Hand gingen, hat Japan die Schäden seiner militärischen Aggression in Asien finanziell kaum wiedergutgemacht. Hierdurch werden bis heute juristische Auseinandersetzungen hervorgerufen, die zu einer der zentralen Formen von Vergangenheitsthematisierung durch Opfergruppen geworden sind.
Die Kontinuierung der kaiserlichen Herrschaft in Japan stellte einen der zentralen Hinderungsgründe für eine adäquate, juristische Aufarbeitung der militaristischen Vergangenheit Japans dar. Sie verhinderte faktisch eine Strafverfolgung von Tätern durch japanische Justizbehörden nach 1945.
Dieser unterschiedliche Verlauf der Thematisierung von Vergangenheit ist nicht zuletzt durch eine unterschiedliche Bedeutung gesellschaftlicher erinnerungspolitischer Akteure in beiden Gesellschaften zu erklären. Auch wenn zu einer abschließenden Bewertung dieses Aspektes zunächst noch weitere empirische Studien notwendig sind, konnte doch herausgearbeitet werden, dass in der Bundesrepublik ab den späten 50er Jahren zunehmend kritische Akteure Einfluss auf den öffentlichen Diskurs über Vergangenheit gewinnen konnten und sich mittelfristig ein mehr oder minder konsensuales Geschichtsverständnis herausbildete, während in Japan bis heute unterschiedlichste Deutungen der Vergangenheit durch die verschiedenen Akteure unvermittelt nebeneinander stehen.


Die Beiträge zu dem Kolleg sollen publiziert werden. Es ist geplant, das Kolleg 2007 in Halle weiterzuführen.

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